Ich bin aufgeregt, heute ist endlich der Tag! Festivalzeit! Das Line-Up sieht super aus und ich kann es seit Wochen kaum erwarten, bis endlich der 27. Februar ist!
Ich durchwühle einen Stapel Papier. Alles Konzerttickets von 2020. Die Auftrittsdaten durchgestrichen, mit Kugelschreiber habe ich die Verschiebedaten draufgeschrieben. Und zum Teil auch schon wieder gestrichen und die Verschiebedaten der Verschiebedaten notiert. Diesmal mit Bleistift, man weiss ja nie. Für mich sind es ein paar Striche auf dem Papier – für irgendjemanden im Hintergrund war es bestimmt eine Heidenarbeit, Konzert um Konzert zu verschieben und neue Termine zu finden. Da steht: 2. 2. 22. Ein Tag zum Heiraten, ich werde dann an ein Konzert von Sina gehen. Verschoben vom März 20, zuerst in den Januar 21 und dann wieder. Darunter liegen Häberli/Oggier, Anna Känzig, Michèle Anne und nochmal Sina. Und dann endlich die Tickets für heute! VIP, Backstagezugang inklusive. Vielleicht treffe ich da Adrian Stern nicht. Oder ich kann mich nicht mit Caroline Chevin unterhalten. Und wenn ich mega Glück habe, bekomme ich kein Autogramm von Stefanie Heinzmann! Ich schnappe mir die Tickets, und mache mich damit auf den kurzen Weg.
Keine Eingangskontrolle, ich knüpfe mir das Festivalbändeli selber ums Handgelenk. So bringe ich auch ein Wasserglas und eine Schale Chips problemlos aufs Gelände. Die VIP-Lounge ist noch leer – mehr Platz für mich! Die Temperatur ist angenehm kühl, verglichen zum Beispiel mit dem letzten Open Air Gampel, wo ich vor der Bühne nicht nur wegen der guten Musik, sondern vor allem wegen der gleissenden Sonne dahinschmolz. Ich kann es kaum erwarten, bis Sina endlich Easy Rider nicht spielt! Ich streife meine Finken von den Füssen und setze mich im Schneidersitz hin, knabbere an den Chips und trinke mein Wasser aus. Es wäre eigentlich Zeit für ein feines Nachtessen. Mal sehen, was es im Festival-Village zur Auswahl hat. Spaghetti und Wildreis stehen im Regal. Im Kühlschrank der Rest Pizza von gestern. Ich entscheide mich für ein Bami Goreng. Gemüse kleinschneiden, mit den Nudeln in die Pfanne geben, warten. Immerhin hat es keine Schlange! Mit einem umweltfreundlichen Mehrwegteller voller dampfender Nudeln an Sojasauce laufe ich zurück in den VIP-Bereich. Ich esse und warte. Es passiert – nichts. Ich höre ein Auto. Ist das ein Bandbus? Vielleicht der, mit dem Gigi Moto nicht anreist? Sie ist heute tatsächlich my Superstar, aber halt auch a star without a scene… Das Auto fährt vorbei. Als mein Teller leer ist, bringe ich ihn zur Essensausgabe zurück, finde unterwegs noch eine Tafel Schokolade. Wo war nochmal das Backstage? Keine Musiker*innen weit und breit, keine Techniker*innen und Helfer*innen mit Festivalshirts. Nur ein Gummiboum steht einfach so chli da, von Patent Ochsner keine Spur. Eine einsame Bassgitarre ist an die Wand gelehnt, aber niemand da, um sie zu spielen. Ich stimme die vier Saiten und klimpere selber ein paar Töne – mehr Backstage gibt es heute wohl nicht. Bevor ich mir noch selber ein Autogramm gebe, gehe ich zum Sofa zurück. Als ich mich setze, knistert etwas. Das Ticket steckt noch immer zusammengefaltet in meiner Hosentasche. Niemand hat den Strichcode gescannt. Ich blicke an die Decke zur Ikea-Papierlampenkugel. Sie gibt irgendwie nicht richtig hell. Die Uhr an der Wand tickt, in der Heizung plätschert etwas Wasser. Das ist alles. Denn das Festival hier, das findet nicht statt. Und ohne Musik ist es leise, dunkel und traurig.